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Titel
Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit in ethnopolitischen Spannungsgebieten: das Beispiel Südafrika. Implikationen für die Bildungsarbeit


Autor(en)
Schell-Faucon, Stephanie
Reihe
ISSA - Informationstelle Südliches Afrika 30
Erschienen
Anzahl Seiten
522 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Volker Paulmann, Hannover

Erinnerungs- und Geschichtspolitik sind zu Schlüsselthemen der Geistes- und Sozialwissenschaften avanciert, wobei die Aufarbeitung des Holocausts nach wie vor den zentralen Bezugspunkt in der hiesigen Forschungslandschaft darstellt. Zunehmend wird der Blickwinkel allerdings erweitert. Durch die Auflösung der realsozialistischen Staatenwelt, aber auch durch andere gesellschaftlichen Umbrüche am Ende des 20. Jahrhunderts in außereuropäischen Ländern, etwa in Staaten Lateinamerikas und in Südafrika, haben sich die Debatten um die Politik mit der Erinnerung intensiviert.1 Gerade der Bereich der „Erinnerungsarbeit“ verdient besondere Aufmerksamkeit, da er gewissermaßen eine Übergangszone vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis repräsentiert, eben den beiden Formen Gruppen bezogener Selbstvergewisserung, die von Jan Assmann als verschiedene Typen kollektiver gesellschaftlicher Erinnerung herausgearbeitet worden sind. Verschiedene Untersuchungen haben mittlerweile gezeigt, dass der Bereich der kommunikativen Weitergabe und der Aushandlungsprozesse von Erinnerungsgehalten besondere Aufmerksamkeit verdient.2

Am Beispiel Südafrika untersucht die Studie von Stephanie Schell-Faucon die „Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit“ nach dem Ende der Apartheidära. Aus dem Blickwinkel der Friedens- und Konfliktforschung unternimmt sie den Versuch, anhand von zwei Fallstudien die südafrikanische Erinnerungslandschaft zu konturieren. Ziel ihrer Studie ist es, „Beschaffenheit, Potential und Herausforderungen“ von Erinnerungsarbeit in „ethnopolitischen Spannungsgebieten“ zu erforschen (S. 22). Unter dem Begriff „Erinnerungsarbeit“ fasst Schell-Faucon ein breit gefächertes Arsenal unterschiedlicher Formen: Sie betrachtete zuvorderst Untersuchungs- und Wahrheitskommissionen als Form der „öffentlichen und politisch-rechtlichen Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen“ (S. 24), daneben die Traumaarbeit und schließlich als bislang – im Kontext der Friedens- und Konfliktforschung – weitgehend unerforschtes Terrain, die „Bildungsarbeit“ in Museen und „Gedenkorten“ (S. 25). Mit diesen Eckpunkten bestimmt sie als Untersuchungsfeld einen „Aktions- und Wirkungsbereich zwischen der eher individualtherapeutischen Traumaarbeit und der gesamtgesellschaftlich orientierten Erinnerungsarbeit von Untersuchungskommissionen“ (S. 38).

Im Kontext der pädagogischen Konfliktbearbeitung werden von Schell-Faucon zwei unterschiedliche Ansätze im Kontext der Erinnerungsarbeit untersucht. Die Vergangenheitsaufarbeitung im therapeutischen „Schonraum“ (d.h. die nichtöffentliche Arbeit mit einer ausgewählten Kleingruppe) wird am Beispiel des „Wilderness Trail and Therapy Project“ (WTTP) dargestellt; als Beispiel für die Arbeit am öffentlichen Erinnerungsdiskurs dient das Robben Island Museum (RIM). Das WTTP versucht, Beteiligte der Auseinandersetzungen in Katorus 3 mittels eines erlebnispädagogischen Ansatzes zusammenzubringen und die durch die Gewaltexzesse bewirkten Traumata der (überwiegend männlichen) Teilnehmer zu behandeln. Interessant ist dabei, dass nicht nur die individuelle Heilung im Vordergrund steht, sondern den ehemaligen Kombattanten im Anschluss an die Teilnahme zugleich Multiplikatorenfunktion zugedacht wird. Auf diesem Weg soll die Erinnerungsarbeit auf die weitere Gemeinde ausgedehnt werden. Im anderen Vergleichsfall steht mit Robben Island, der ehemaligen Gefangeneninsel vor Kapstadt, ein geschichtspolitisch beziehungsreiches Gegenmodell. Als Haftort u.a. von Nelson Mandela schon zu Zeiten der Apartheid international bekannt, ist Robben Island das prominenteste südafrikanische Beispiel für öffentliche Erinnerungsarbeit.

Schell-Faucon zeigt auf, wie die politisch-moralischen, pädagogischen und rhetorischen Leitmotive der Truth and Reconciliation Commission (TRC) auch die Auseinandersetzung anderer Initiativen mit der Apartheid prägen. Sei es im positiven Bezug oder in kritischen, sich abgrenzenden Ansätzen. So wird deutlich, dass zum Zeitpunkt ihrer Feldforschung im Jahr 2000 viele Hoffnungen zerstoben sind, die im Zuge des Versprechens, durch Wahrheit zur Versöhnung zu gelangen („Truth: The Road to Reconciliation“ war der Slogan der TRC), geweckt worden waren.

Empirisch stützt sich die Arbeit in erster Linie auf Interviews mit MitarbeiterInnen und TeilnehmerInnen bzw. BesucherInnen der dargestellten Einrichtungen sowie auf teilnehmende Beobachtung. Indem die Aussagen der InterviewpartnerInnen zu den theoretisch-konzeptionellen Grundlagen der Initiativen in Beziehung gesetzt werden, werden die Rezeption des Angebots und Potentiale bzw. Herausforderungen der dort geleisteten Erinnerungsarbeit diskutiert (S. 41). Ergibt sich dabei für das WTTP aufgrund der Größe und Beschaffenheit des Samples ein schlüssiges Gesamtbild, so bleibt das RIM insgesamt hinter dem Anspruch auf umfassende Darstellung, der dort geleisteten Bildungsarbeit, zurück. Sowohl die verschiedenen pädagogischen Ansätze des RIM, die Größe und Zusammensetzung der Museumsstruktur als auch die Masse und Verschiedenartigkeit der BesucherInnen erschweren hier einen qualitativen methodischen Zugang. Für die Untersuchung hätte die Eingrenzung, beispielsweise auf die Führungen durch ehemalige Häftlinge (die ohnehin den Schwerpunkt der öffentlichen Arbeit bilden), hinsichtlich der Wirkung der Erinnerungsarbeit präzisere Erkenntnisse liefern können.

Dennoch lassen sich für den Bereich der südafrikanischen Erinnerungsarbeit einige interessante Ergebnisse zusammenfassen, die auf gemeinsame Problembereiche jeglicher Erinnerungsarbeit verweisen. Neben der staatlichen, entscheidend durch die TRC initiierten Versöhnungspolitik, werden Tendenzen zur Heldenverehrung ehemaliger Führungspersonen des „struggle“ und die Folgen der (z.T. notwendigen) Ausrichtung der Darstellungskonzepte auf Touristen problematisiert (Kap. 5.7). Ein wichtiger Bestandteil in beiden Fallbeispielen ist, anknüpfend an die TRC-Arbeit, der didaktische Einsatz von storytelling und die Mediation durch Zeitzeugen (S. 494). Zumindest in der Museumsarbeit von Robben Island erscheint dieser Fokus laut Schell-Faucon aber riskant: „Generell läuft das Museum mit seinem einseitig emotional-biographischen Zugang zur Vergangenheit Gefahr, die Geschichte auf Einzelschicksale zu reduzieren und zu entpolitisieren.“ (S. 458)

Ein weiteres Problem der TRC und, wie Schell-Faucon zeigt, der darauf folgenden Ansätze zur Vergangenheitsbewältigung war und ist die Fokussierung auf die gewalttätigen Exzesse des Regimes bzw. auf deren Auswirkungen. Anhand des WTTP wird deutlich, dass die Zusammenführung ehemals verfeindeter Gruppen nachhaltig eher begrenzte Erfolge zeitigt, wenn ethnische Identitäten nicht hinterfragt, sondern durch eine oftmals zu kurz greifende Versöhnungspolitik reproduziert werden. So resümiert auch Schell-Faucon: „Für eine umfassende Konfliktbearbeitung scheint die Konzentration auf einen Aspekt der gesellschaftlichen Spaltung längerfristig in keinem Fall hinlänglich, denn die sozioökonomischen, ethnopolitischen und psychischen Folgen des Apartheidsystems offenbaren sich in vielfältigen Formen der gesellschaftlichen Segregation, die es zwischen Südafrikanern noch zu überwinden gilt.“ (S. 240f.)

Nachteilig wirkt sich aus, dass sich die vorliegende Studie im methodischen Konzept der Friedens- und Konfliktforschung bewegt, ohne der Frage vom Zusammenhang individueller Erinnerung und deren gesellschaftlicher Rahmung systematisch nachzugehen. Zwar registriert Schell-Faucon beispielsweise, dass sich die Lebensgeschichten der Museumsführer auf Robben Island durchaus mit einem „new national narrative“ vermengen (S. 469). Diese Facette der Erinnerungsarbeit wird aber nicht weiter beleuchtet, so dass hier weitere Forschung nötig wäre, um das Verständnis von Erinnerungsarbeit in Südafrika zu vertiefen.

Im Vordergrund der untersuchten Initiativen und ihrer Ansätze steht die Bewältigung von „Traumata“ und die „Heilung“ der erlittenen „Wunden“.4 Hierbei wird vor allem die Unschärfe des Traumabegriffs deutlich, der nicht nur in Südafrika oft unzulässig mit verschiedenen Formen des Erinnerns in eins gesetzt wird, gleich ob von Individuen oder von Kollektiven die Rede ist. Die Unterscheidung, ob die Auflösung von Identitäts- und Wertmustern nach dem Ende der Apartheid oder Traumata im Sinne klinischer Krankheitsbilder den Lebensalltag beeinflussen, verschwimmt. Auch bei Schell-Faucon ist nicht immer klar, auf welcher Grundlage sie die Feststellung von „traumatischen“ Zuständen bei Beteiligten trifft und welche Maßnahmen diese Zuschreibung erfordert.

Anhand der Schilderungen wird dennoch deutlich, dass sich das Feld institutionalisierter Erinnerungsarbeit in einem permanenten Aushandlungsprozess verschiedener Ansprüche befindet. Kämpfe über geschichtspolitische Interpretationen und um materielle Ressourcen, aber auch interne Konflikte stellen die „Erinnerungsarbeiter“ vor die Aufgabe zu filtern und zu vermitteln. Durch die Interviews wird zudem deutlich, wie sehr die persönliche Integrität der professionellen MitarbeiterInnen den Erfolg des Konzeptes beeinflussen kann (vgl. in Bezug auf WTTP S. 131, für die Wahrnehmung von Häftlingsführungen auf RI durch Besucher bspw. S. 307).

Insgesamt hat Stephanie Schell-Faucon eine profunde und lesenswerte Arbeit vorgelegt. Die Stärken der Studie liegen fraglos im ethnografischen Zugang zum Feld der Erinnerungslandschaft, der die dynamischen Alltags- und Interaktionsprozesse der Beteiligten reflektiert. Die qualitativen Interviews decken insgesamt die Schwierigkeiten der Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit auf, soweit diese dem unmittelbaren Anspruch folgt, durch Aufarbeitung der Apartheid zu Versöhnung und „Heilung“ zu gelangen. Für die Beschäftigung mit dem Thema der Erinnerungspolitik bietet der Blick auf Südafrika eine Reihe von Anregungen. Eine interessante Facette ist sicherlich, dass sich auch im dortigen Erinnerungsdiskurs Spuren der Aufarbeitung der NS-Geschichte finden lassen. Im Rahmen der Kandidatur als UNESCO Welterbe hat das Robben Island Museum beispielsweise eine explizite Ablehnung der Selbstwahrnehmung als „holocaust-type site“ (S. 334) kundgetan und stattdessen den „triumph of the human spirit against the forces of evil“ (S. 267) als Narrativ etabliert.5 Der Vergleich von Erinnerungskulturen in transnationaler Perspektive verspricht hinsichtlich der Verbundenheit von verschiedenen historischen Diskursen noch viele Einblicke.

Anmerkungen
1 Vgl. dazu die Ausstellung im DHM und die zweibändige Begleitpublikation: Flacke, Monika (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, 2 Bde, Berlin 2004; Zimmerer, Jürgen (Hg.), Vergangenheitspolitik nach 1945 in globaler Perspektive (Comparativ: Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung 14, 5/6 (2004)), Leipzig 2004; Cornelißen, Christoph; Klinkhammer, Lutz; Schwentker, Wolfgang (Hgg.), Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit 1945, Frankfurt am Main 2003; für Lateinamerika: Lateinamerikaanalysen 9, Oktober 2004: Themenschwerpunkt: Vergangenheitspolitik in Lateinamerika.
2 Z.B. für die Erinnerungsverhandlung in Familien: Jensen, Olaf, Geschichte machen. Strukturmerkmale des intergenerationellen Sprechens über die NS-Vergangenheit in deutschen Familien, Tübingen 2004; für die Erinnerungspolitik am Beispiel eines nationalen Erinnerungsortes: Leggewie, Claus; Meyer, Erik, „Ein Ort an den man gerne geht“. Das Holocaust-Mahnmal und die deutsche Geschichtspolitik nach 1989, München 2005
3 In den Townships südlich von Johannesburg fanden zu Beginn der 1990er-Jahre zwischen verschiedenen Bewohnergruppen – politisch induziert – schwere Kämpfe statt, die mehr als Tausend Menschen das Leben kosteten. Über Jahre hinweg prägten Terror und Gewalt das Zusammenleben der Menschen.
4 Zum Gebrauch dieser metaphorischen Begriffe im Kontext der Versöhnungsarbeit vgl.: Rassool, Ciraj; Witz, Leslie; Minkley, Gary, Burying and Memorialising the Body of Truth. The TRC and the National Heritage, in: Wilmot, James; Van De Vijver, Linda (Hgg.), After the TRC. Reflections on Truth and Reconciliation in South Africa, Cape Town 2000, S. 115-128.
5 Der Ausspruch stammt von dem damaligen Leiter vom RIM, Ahmed Kathrada. Diese erinnerungspolitische Konstellation entspricht jener „kosmopolistischen Erinnerung“, die nach Levy und Sznaider globale und lokale Aspekte im Fokus des Holocaust miteinander verbindet: Levy, Daniel; Sznaider, Natan, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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